Mehr Transparenz dank schrittweiser Öffnung

Thomas B. Cueni · Generalsekretär Interpharma, Verband der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz
Thomas B. Cueni

Transparenz bei klinischen Daten

Nicht zuletzt unter dem Druck der Ankündigung der European Medicines Agency (EMA), in Zukunft klinische Daten zu veröffentlichen, haben sich der europäische und der US-amerikanische Pharmaverband auf Grundsätze für mehr Transparenz hinsichtlich klinischer Daten geeinigt. Sie führen damit fort, was schon seit längerer Zeit ohnehin stattfindet: Eine schrittweise Öffnung hin zu mehr Transparenz unter Berücksichtigung schützenswerter Güter.

Schon seit längerem wird vor allem von akademischen Forschern gefordert, dass die Pharmaunternehmen ihre klinischen Daten gänzlich offenlegen und zugänglich machen sollen, um den behaupteten Nutzen von Medikamenten durch interessierte Kreise überprüfen zu lassen. Der prominenteste Ruf stammt von der im Januar 2013 von der Cochrane Collaboration, dem British Medical Journal und anderen lancierten AllTrials-Initiative.

Die Problematik wurde lange vor allem im angelsächsischen Raum diskutiert, sorgte aber aufgrund der ursprünglich für die Anfang 2014 geplante Einführung einer neuen Regelung zu einer proaktiven Offenlegung klinischer Daten durch die EMA auch im deutschsprachigen Raum für viel Aufsehen.

Welche Transparenz?

Interessant ist, dass die Frage der vollständigen Transparenz klinischer Daten nicht nur in der Industrie, sondern auch von Behörden und Fachleuten durchaus kontrovers diskutiert wird. Unbestritten sind der Trend und die Forderung nach mehr Transparenz. Kritisch zu hinterfragen ist allerdings der Ruf nach absoluter Transparenz – also die Offenlegung sämtlicher klinischer Daten, einschliesslich der Rohdaten auf Patientenebene, selbst in anonymisierter Form. Eine schrittweise Öffnung findet in der Frage, wie man durch mehr Transparenz und Datenaustausch zwischen Forschergruppen zu rascherem Erkenntnisgewinn kommt, ohnehin bereits seit längerem statt. So sind im präkompetitiven Bereich der Forschung mehrere Open Innovation-Initiativen wie etwa die Innovative Medicines-Initiative der EU, an der Hochschulen und Industrie beteiligt sind, entstanden. Schon in den 1990er-Jahren kollaborierten Pharmaunternehmen im Zuge der dringend benötigten Medikamente gegen HIV/Aids und stellten sich wechselseitig Moleküle zur Verfügung, um schneller wirksame Medikamenten-Kombinationen zu finden. Das Ergebnis ist bekannt: HIV/Aids ist heute zwar noch immer nicht heilbar, aber zu einer behandelbaren chronischen Krankheit geworden. Diese Art der Zusammenarbeit zwischen Firmen, die im Markt hart im Wettbewerb stehen, war damals neu, heute kommt sie häufiger vor. Der Grund dafür ist unter anderem die personalisierte Medizin mit Biomarkern als Ausgangspunkt. Für aussagekräftige Daten braucht es so große Patientenzahlen, dass diese nur über Kollaborationen gewonnen werden können. Hier hat eine Öffnung bereits stattgefunden.

Demgegenüber ist die absolute Transparenz klinischer Daten aus mehreren Gründen problematisch. Erstaunlich wenig diskutiert wird die Problematik des „second guessing“ von Entscheiden der Zulassungsbehörden. Denn letztlich stehen die Zulassungsbehörden wie die FDA, die EMA oder – in der Schweiz – die Swissmedic in der Verantwortung, wenn sich ein ursprünglicher Zulassungsentscheid als falsch oder aufgrund neuer Daten als korrekturbedürftig erweist. Muss ein Entscheid einer Zulassungsbehörde revidiert werden, wird sie dafür kritisiert und die betroffene Firma muss mit Konsequenzen rechnen. Schon deshalb haben die Unternehmen ein ureigenes Interesse daran, den Zulassungsbehörden alle verfügbaren Daten zur Verfügung zu stellen. Im Gegensatz dazu können akademische Wissenschaftler kaum belangt werden für den potentiellen Schaden, der bei Patienten, Behörden oder Unternehmen angerichtet wird, wenn sich nachträglich herausstellt, dass ein Arzneimittel zu Unrecht in Frage gestellt worden ist. Es müsste für diesen Fall ebenfalls Qualitätskriterien und Sanktionsmöglichkeiten geben, zumal die Sucht nach Schlagzeilen auch dem heutigen Wissenschaftsbetrieb nicht fremd ist.

Vollständige Transparenz könnte aber auch zu Datenschutzproblemen führen, da Patienten selbst bei anonymisierten Patientendaten speziell bei Medikamenten gegen seltene Krankheiten beispielsweise über Social Media re-identifiziert werden können. Der Schutz der Privatsphäre muss aber im Bereich der klinischen Forschung oberste Priorität haben. Eine solche Möglichkeit zur Re-Identifizierung würde sich negativ auf die Teilnahmebereitschaft an klinischen Studien auswirken – zum Schaden gerade derjenigen, denen die Transparenzbefürworter eigentlich helfen möchten: den Patientinnen und Patienten, die auf neue und bessere Therapien warten.

Und schließlich ist der Schutz vertraulicher kommerzieller Daten wichtig. Nur so kann verhindert werden, dass Trittbrettfahrer von den Investitionen anderer profitieren und nur so lassen sich letztlich die immer höheren Forschungsausgaben für die Entwicklung neuer Medikamente finanzieren. Auch hier drohen negative Konsequenzen für die Patientinnen und Patienten, wenn die Unternehmen nicht mehr in neue Therapieansätze investieren. Es kommt nicht von ungefähr, dass es beim hängigen Rechtsstreit mit der EMA nicht um einen Konflikt mit akademischen Forschern geht, sondern um die Frage, ob die Konkurrenten des betroffenen Unternehmens Zugang zu vertraulichen Daten erhalten sollen.

Grundsätze von PhRMA und EFPIA

Der Ruf nach mehr Transparenz bei klinischen Daten hat dazu geführt, dass die Dachorganisationen der forschenden Pharmaunternehmen in den USA (PhRMA) und in Europa (EFPIA) im letzten Sommer gemeinsame Grundsätze für mehr Transparenz verabschiedet haben, die seit diesem Jahr gelten. Erstens werden klinische Daten und Studienprotokolle für in der EU und den USA zugelassene Medikamente bei begründeten Forschungsvorhaben von Wissenschaftlern ausgehändigt. Diesbezügliche Anfragen werden von einem „Scientific Review Board“ geprüft. Diesem gehören auch externe Experten an. Die Anfragen und die Identität der Anfrager werden öffentlich gemacht. Im Falle einer Aushändigung verpflichten sich die beteiligten Wissenschaftler, die Daten nicht an Dritte weiterzugeben und ihre Studien einem „peer review“ zu unterstellen.

Zweitens müssen die Zusammenfassungen der klinischen Studienberichte, welche an die FDA oder die EMA gesendet werden, veröffentlicht werden. Drittens wird den Studienteilnehmern eine Zusammenfassung der Studienergebnisse zugänglich gemacht. Schließlich sollen alle industriefinanzierten Studien unabhängig vom Resultat in geeigneter Form publiziert werden. Diese Grundsätze sind als Minimalstandards zu verstehen, die es den einzelnen Unternehmen offen lassen, ob sie von sich aus noch weiter gehen möchten.

Initiativen der Industrie

Unabhängig davon haben sich zahlreiche Pharmaunternehmen bereits früher verpflichtet, Wissenschaftlern den Zugang zu klinische Daten für Zweitanalysen zu gewähren. So hat etwa Roche im Februar 2013 angekündigt, klinische Daten an Wissenschaftler auf Anfrage auszuhändigen. GlaxoSmithKline hat im letzten Jahr als erstes Pharmaunternehmen die AllTrials-Initiative unterzeichnet. Seit Anfang 2014 hat zudem das Portal clinicalstudydatarequest.com von fünf großen Unternehmen seinen Betrieb aufgenommen, über das Forscher den Zugang zu anonymisierten Daten auf Patientenstufe anfragen können.

Weiter haben sich die internationalen Pharmaverbände schon vor längerem dazu verpflichtet, dass jede klinische Studie in einem öffentlichen Register erfasst werden muss. In der EU wird mit der neuen Clinical Trials Directive eine Registrierungspflicht eingeführt werden und auch in der Schweiz gilt mit dem Inkrafttreten des neuen Humanforschungsgesetzes sowie den dazugehörigen Verordnungen seit Anfang dieses Jahres eine solche Pflicht.

Die Pharmaunternehmen haben die Zeichen der Zeit erkannt – auch unter dem Druck des radikalen Vorhabens der EMA. Der Trend zu mehr Transparenz lässt sich nicht aufhalten und er bietet Chancen und Risiken. Der sorgfältige Umgang mit sensiblen Patientendaten, die Wahrung der Interpretationshoheit der Arzneimittelbehörden und der Schutz kommerziell vertraulicher Daten sind wichtige Güter, die berücksichtigt werden müssen. Die Grundsätze der Pharmaverbände und darüber hinausgehende Initiativen von Einzelunternehmen sind wichtige Schritte hin zu mehr Transparenz, die dank der Beachtung der angeführten Problemfelder potentiell zu medizinischem Fortschritt führen kann, der den Patientinnen und Patienten zugute kommt.

pharmind 2014, Nr. 1, Seite 14